Indiens Retail-Markt 2025: Zwischen digitaler Disruption und regionalem Wachstumsschub

von Sandra Katzenberger

Ein Blick auf den digitalen Handel verdeutlicht die Dimensionen, denn der Online-Einzelhandel hat 2024 bereits die Marke von 60 Milliarden US-Dollar Bruttowarenwert überschritten. Zwar führten wirtschaftliche Turbulenzen zu einer leichten Wachstumsverlangsamung (10–12 % in 2024), doch langfristig wird im Online-Einzelhandel ein Wachstum von über 18 % jährlich, auf bis zu 190 Milliarden US-Dollar bis 2030 erwartet.

„Unternehmen, die bereits in Indien investieren, profitieren von beschleunigtem Wachstum, höheren Aktionärsrenditen und der Möglichkeit, global relevante Produkte zu entwickeln“, sagte Ravi Swarup, Leiter der Konsumgütersparte von Bain in Indien.

Quick Commerce (Q-Commerce), also Lieferungen innerhalb von 30 Minuten, verändert das Einkaufsverhalten in Indien radikal. Zwei Drittel aller Online-Lebensmittelbestellungen und bereits ein Zehntel des gesamten Online-Einzelhandelsumsatzes laufen heute über diese Kanäle. Dabei profitiert Indien von strukturellen Vorteilen: hohe Bevölkerungsdichte, ein Netz von günstigen so genannten Dark Stores, eine Einzelhandelsfiliale oder ein Distributionszentrum, das ausschließlich dem Online-Einkauf dient, und eine digitale Affinität der Bevölkerung.

Prognosen gehen von einem jährlichen Wachstum von über 40 % bis 2030 aus – auch, weil Q-Commerce längst über Lebensmittel hinausgeht: Elektronik, Mode und Haushaltswaren machen bereits 15 bis 20 % des Umsatzes aus. Anbieter optimieren ihre Geschäftsmodelle durch Direktbeschaffung, Werbeeinnahmen und Plattformgebühren. Um auch in kleineren Städten profitabel zu bleiben, sind skalierbare Liefermodelle und differenzierte Sortimente gefragt.

Indiens junge, mobile und trendbewusste Käuferschaft treiben einen zweiten Trend voran: Trend-First-Commerce. Vor allem Modeartikel mit kurzen Lebenszyklen, tägliche Sortimentswechsel und Social-Media-Hypes dominieren dieses Modell. Bis 2028 soll sich der Umsatz mit trendorientierter Mode auf bis zu 10 Milliarden US-Dollar vervierfachen und mehr als die Hälfte davon online.

Was dieses Modell so erfolgreich macht, ist ein bewährtes Muster: gezielte Ansprache der Generation Z über Social Media, technologische Trenderkennung, schnelle Produktzyklen und personalisierte Nutzererlebnisse. Offline-Marken wie Zudio (by Trent), H&M und Zara haben in Indien bereits erfolgreich ein überzeugendes „Trends-First“-Angebot platziert. Auch Online-Plattformen wie Flipkart Spoyl, Myntra Fwd und Shein sowie aufstrebende Marken wie Urbanic, Snitch und NewMe versuchen die Generation Z und trendbewusste Millennials für sich zu gewinnen.

Ob koreanische Glass Skin Routine im Beautybereich, Smart Gadgets oder stylisches Reisegepäck, die schnell wachsenden Influencer- und Lieferanten-Ökosysteme werden dieses Wachstum weiter beschleunigen. In diesem Fall wird trendbasierter Konsum zur neuen Normalität.

Preisaggressiver Online-Handel boomt weltweit und auch in Indien. Hyper-Value-Commerce-Plattformen setzen auf extrem niedrige Preise, geringe Margen und Masse statt Klasse. Vorbild ist hier Temu aus den USA, das innerhalb eines Jahres Amazon bei den aktiven Nutzern fast überholt hat. In Indien drängen ähnliche Anbieter mit aggressiven Preisen und einfacher Usability auf den Markt – getrieben von einem riesigen Low-Budget-Kundenstamm und einer wachsenden digitalen Infrastruktur.

Fast 40 % der Online-Käufer- und Käuferinnen in Indien gehören zu der Generation Z. Diese Generation ist im digitalen Zeitalter geboren, stark auf Social Media ausgerichtet, experimentierfreudig und markenaffin. Diese Zielgruppe kauft auf bis zu fünf Plattformen gleichzeitig ein, entdeckt neue Marken über Reels statt über Suchmaschinen und bevorzugt ein indisches Sofortzahlungssystem wie Unified Payments Interface mit einem Marktanteil von über 90 % der Soforttransaktionen.

Die Generation Z gibt dreimal so viel für neue Modemarken aus wie ältere Generationen und sucht nach Produkten, die ihren Stil und Lebensstil widerspiegeln – nicht nur nach Funktion. Marken, die diese Zielgruppe erreichen wollen, müssen schnell, sichtbar und relevant sein.

Indien ist kein homogener Markt. Je nach Region, Stadtgröße, Einkommen und digitaler Reife unterscheiden sich die Kaufgewohnheiten. Während Nordindien eher auf „Marke = Status“ setzt, gilt im Süden „Marke = Qualität“. In Städten wie Gurugram boomen Premium-Formate, während in anderen Städten Preis-Leistungs-Angebote dominieren.

Bemerkenswert ist, dass in kleineren Städten die durchschnittlichen Verkaufspreise in vielen Kategorien nur wenig unter denen der Metropolen liegen. Die Nachfrage nach Premium-Produkten steigt auch hier rasant, insbesondere wenn gesponserte Inhalte und flexible Bezahlmethoden zum Einsatz kommen.

Indien bietet eine einzigartige Mischung aus Größe, Wachstum, Digitalisierung und kultureller Vielfalt. Die zukünftige Handelslandschaft wird geprägt sein von digitalen Innovationen, urbanem Lifestyle und regionalem Empowerment. Als Erfolgsrezept gilt es hier die Mikrovielfalt des Konsums, die Anpassung an das Sortiment, die Preisgestaltung und die Ansprache zu erkennen und auf differenzierte Strategien statt Standardlösungen zu setzen.

Quellen: Bain & Company Report, India Retailing News, Indian Retailer Artikel