Agentische KI als autonome Akteurin im Handel – ein Zukunftsszenario

Noch ist es ein hypothetischer Blick nach vorne, aber die ersten Signale gibt es: Agentische KI könnte viele Prozesse im Handel automatisieren – und zwar von der Strategieentwicklung über die Entscheidung bezüglich der Maßnahmen bis zur finalen Umsetzung. Und das praktisch ohne menschliches Zutun!

Wie eine solche Vision für Einzelhändler aussehen könnte, sollen die folgenden hypothetischen Anwendungsfälle verdeutlichen. So wird greifbar, welche Potenziale entstehen, wenn KI-Agenten nicht nur bei einzelnen Aufgaben unterstützen, sondern ganze Prozessketten selbstständig steuern, autonom Ziele verfolgen und mit physischen wie digitalen Systemen in der realen Welt Handlungen ausführen.

Bisher war KI in der Lage, Inhalte anzupassen oder Aktionen auszuführen – allerdings immer anhand klar definierter Vorgaben, nach erkannten oder gelernten Mustern oder innerhalb eng gesetzter Parameter. Im Mittelpunkt stand die Aufgabe oder Funktion, nicht das übergeordnete Ziel.

Agentische KI hingegen lässt sich mit einem Ziel beauftragen und kann dann eigenständig Strategien entwickeln, verschiedene Wege abwägen und Maßnahmen umsetzen, um dieses Ziel zu erreichen.

Agentische KI könnte im Handel weit mehr als punktuelle Aufgaben übernehmen: Sie ist in der Lage, ganze Prozessketten eigenständig zu steuern und kontinuierlich zu optimieren. Das gilt für alle Bereiche des Handelsgeschäfts, von der Logistik und Beschaffung über die Prozesse im Geschäft oder im E-Commerce bis hin zu Marketingkommunikation und Kundenservice.

Ein KI-Agent könnte im stationären Handel eine zentrale Steuerungsrolle übernehmen. Die KI hat die Warenbestände im Blick und bestellt selbstständig Artikel nach, bevor es zu Engpässen kommt. Dabei berücksichtigt sie Bestellungen und Nachfrageprognosen über verschiedene Verkaufskanäle und verteilt Produkte autonom auf Lager, Micro Hubs und Filialen. In den Filialen führt die KI die Inventur durch und beauftragt Roboter damit, leere Regalflächen wieder zu befüllen. Sie analysiert Besucherströme, optimiert das Store-Layout und platziert Verkaufstische oder mobile Displays selbstständig um.

Darüber hinaus kann die agentische KI nach neuen Trend- oder Saisonartikeln sowie passenden ergänzenden Produkten recherchieren und diese eigenständig einkaufen. Sie beobachtet anschließend den Absatz und entscheidet autonom, ob ein Artikel weitergeführt, in der Menge angepasst oder aus dem Sortiment genommen wird.

Auf digitalen Kanälen kann agentische KI die Customer Experience minutiös an die Anforderungen anpassen. Sie entscheidet, welche Produkte oder Angebote auf der Startseite präsentiert werden, optimiert die Menüführung und den Aufbau im Webshop oder passt Design und Storytelling mit Text, Bildern und Farben autonom an. Bei diesen Veränderungen geht es nicht nur um eine generelle Dynamisierung wie saisonale Kampagnen. Theoretisch kann die agentische KI die Webseite, den Onlineshop oder die App individuell auf jeden einzelnen User oder jede einzelne Userin zuschneiden. Gleichzeitig kann die KI das Nutzerverhalten beobachten, den Erfolg der Maßnahmen messen, daraus Verbesserungen ableiten und diese direkt ohne menschliches Zutun umsetzen.

Im Kundenservice geht die Rolle der KI weit über einfache Chatbots hinaus, die FAQs wiedergeben oder auf die richtige Landingpage verweisen. Agentische KI löst Kundenanliegen autonom: Sie bearbeitet Retouren, führt Rückbuchungen durch, aktualisiert Kundendaten oder schickt den Montage-Service zur Kundschaft nach Hause.

Analytische, prädiktive oder generative KI-Tools haben heute schon einen großen Einfluss auf unsere Arbeitsroutinen und sind wirkungsvolle Helfer in Arbeitsprozessen. Bisher unterstützt KI uns Menschen allerdings meist punktuell: sie übernimmt spezifische Aufgaben oder kann einzelne Prozesse autonom ausführen.

Die eigentliche transformative Kraft entfaltet KI aber erst, wenn agentische KI ganze Aufgabenbereiche übernimmt, Vorgänge miteinander verknüpft und komplette Prozessketten eigenständig steuert. In der Praxis sähe das so aus, dass die KI den folgenden Prozess anstößt, nachdem sie die korrekte Ausführung des vorherigen geprüft und die Ergebnisse übertragen hat – und so weiter. Dabei sprechen wir nicht nur von rein digitalen Vorgängen wie der Analyse eines Datensatzes, dem Erstellen einer Auswertungsdatei und der Generierung eines Dokuments mit Handlungsempfehlungen daraus.

Langfristig ist denkbar, dass es kaum noch Informationsquellen, Kommunikationskanäle, Steuerungssysteme oder physische Aktoren gibt, an die sich eine KI nicht anbinden lässt – in der digitalen Welt durch Schnittstellen, in der realen Welt durch Automaten, Roboter und Drohnen.

Doch was bedeutet das für Mitarbeitende im Einzelhandel? Die Rolle des Menschen wird sich vermutlich noch weiter in Richtung Überwachung, Steuerung und Qualitätsmanagement verschieben. Mitarbeitende werden an definierten Punkten eingreifen, indem sie Ergebnisse prüfen, weitere Prozessketten freigeben oder sie bei Optimierungsbedarf stoppen. Hinzu kommen Aufgaben wie die KI zu trainieren, kreativen Input zu geben oder Dinge aus der menschlichen Perspektive zu bewerten und zu gestalten.

Auf Management-Ebene wird sich die entscheidende Frage stellen: Wie viel Vertrauen setzt man in die agentische KI und an welchen Stellen greift man bewusst ein? Genau hier könnte sich künftig eine neue Management-Qualität entwickeln – nämlich die Kompetenz, den idealen Mittelweg zu finden zwischen Autonomie der KI und menschlicher Intervention, zwischen maximaler Effizienz und subjektiver Entscheidung.